In der Entscheidung 4 U 222/22 befasste sich das OLG Bamberg am 21.02.2023 mit den Anforderungen an die Beweiserleichterung nach § 630 h BGB.

 

Was war geschehen?

Die Klägerin machte als Erbin ihrer verstorbenen Mutter (im Folgenden Geschädigte) deren materiellen und immateriellen Schadensersatz sowie Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nach einem Sturz geltend. Die Geschädigte lebte in einem Seniorenzentrum. Als sie eines Tages im Februar 2019 in Begleitung eines weiteren Bewohners des Seniorenheims sowie einer Praktikantin einen Spaziergang machte, stürzte sie und zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Daraufhin musste die Geschädigte stationär behandelt und operiert werden. Beklagt war die Trägerin des Seniorenzentrums.

Was meint die Klägerin?

Die Klägerin war der Ansicht, dass auf Grund von Glätte an diesem Tag und der körperlichen Verfassung der Geschädigten, der Spaziergang gar nicht hätte stattfinden dürfen. Zudem sei die Praktikantin nicht ausreichend qualifiziert gewesen. Sie hätte mit der Geschädigten nur untergehakt gehen dürfen, was nicht geschehen war.

Und die Beklagte?

Die Beklagte hingegen wies eine Sorgfaltspflichtverletzung zurück. Die Praktikantin sei stets zuverlässig gewesen und ausreichend eingewiesen worden. Der Sturz der Geschädigten sei nicht vorhersehbar gewesen und auch nicht auf die Glätte an diesem Tag zurückzuführen.

Was hat die erste Instanz entschieden?

Das LG Bamberg, das in erster Instanz zu entscheiden hatte, hatte im Rahmen der Beweisaufnahme ein meteorologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Es kam schlussendlich zu dem Ergebnis, die Klage abzuweisen. Weder das Wetter noch die Konstitution der Geschädigten hätten gegen einen Spaziergang gesprochen. Ein glättebedingtes Ausrutschen habe nicht nachgewiesen werden können. Außerdem sei die Praktikantin nicht grundsätzlich ungeeignet dazu, die Senioren beim Spaziergang allein zu begleiten.

Das OLG Bamberg hatte nun über die Berufung der Klägerin zu entscheiden. Zur Begründung der Berufung führte die Klägerin an, das LG Bamberg habe bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt, dass die Praktikantin selbst gesagt habe, am Tag des Spaziergangs sei gestreut worden. Dies deute darauf hin, dass Glätte und risikobehaftete Witterungsbedingungen vorgelegen hätten. Dies hätten auch zwei Zeugen bestätigt. Zudem habe das LG nicht berücksichtigt, dass die Aussage der Praktikantin widersprüchlich gewesen sei. Im Übrigen hielt die Klägerin an ihrem Argument, die Praktikantin sei nicht qualifiziert für den Spaziergang gewesen, fest. Die Beklagte argumentierte, dass selbst wenn an dem Tag grundsätzlich Glätte vorgelegen hätte, so sei es trotzdem ungewiss, ob dies auch zu dem konkreten Zeitpunkt des Sturzes an der konkreten Stelle der Fall gewesen war.

Was entschied das OLG Bamberg?

Das OLG Bamberg kündigte im Hinweisbeschluss vom 21.02.2023 an, die Berufung zurückzuweisen. Sie sei offensichtlich unbegründet. Die Entscheidung der Ausgangsinstanz beruhe weder auf einem Rechtsfehler, noch würden die zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Das Gericht wies darauf hin, dass gemäß § 529 Abs. 1 S. 2 ZPO ein Berufungsgericht an die Tatsachenfeststellungen des erstinstanzlichen Gerichts gebunden sei, wenn keine konkreten Anhaltspunkte bestünden, um Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der durch das erstinstanzliche Gericht festgestellten Tatsachen zu begründen. Nur dann müsse das Berufungsgericht eigene Tatsachenfeststellungen anstellen. Der Begriff „Zweifel“ sei dabei so zu verstehen, dass aufgrund konkreter Anhaltspunkte aus der Sicht des Berufungsgerichts eine mindestens gewisse Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass sich bei erneuter Tatsachenfeststellungen die erstinstanzlichen Feststellungen als unrichtig erweisen.

Diese Voraussetzungen sah das OLG Bamberg im vorliegenden Fall nicht als gegeben an. Der Sachverhalt sei rechtlich zutreffend gewürdigt worden. Eine mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz sah das Gericht als nicht notwendig an, da nicht davon auszugehen sei, dass dabei neue, für die Berufung relevante, Erkenntnisse zu Tage gefördert werden würden. Die Rechtssache habe außerdem keine grundsätzliche Bedeutung. Eine Entscheidung des Berufungsgerichts sei für die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich.

Zum konkreten Fall

Die Feststellungen des Ausgangsgerichts seien nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Glätte habe die Klägerin zwar nachvollziehbar aufgeführt, weshalb die Ausführungen des meteorlogischen Sachverständigen anzuzweifeln seien. Die Aussagen der Praktikantin sowie weiterer Zeugen haben belegt, dass an diesem Tag grundsätzlich Glätte auf den Straßen vorgelegen habe. Jedoch habe die Klägerin nicht dargelegt weshalb das Ausgangsgericht von Glätte an der konkreten Stelle, an der der Sturz stattgefunden habe, sowie zu dem konkreten Zeitpunkt hätte ausgehen müssen. Bei einer allgemeinen Glättegefahr lasse sich nicht ohne Weiteres auf Glatteis an der Unfallstelle schließen. Selbst wenn Glatteis an der Stelle gewesen sei, so müsse es nicht zwingend der Unfallgrund gewesen seien. Andere Unfallursachen, etwa ein Stolpern der Geschädigten über ihre eigenen Beine, könnten nicht ausgeschlossen werden. Da nicht festgestellt werden könne, dass an der Unfallstelle Glätte vorgelegen hätte, läge auch kein Beweis des ersten Anscheins dafür vor, dass dies auch der Unfallgrund gewesen sei. Mithin sei nicht nachzuweisen, dass die Beklagte eine Pflichtverletzung durch den Spaziergang bei Glätte begangen habe, welche dann schadensursächlich geworden sei.

Gleiches gelte für den Vorwurf, die Praktikantin habe die Geschädigte unterhaken müssen. Unabhängig davon, ob die körperliche oder geistige Konstitution der Geschädigten dies wirklich verlangt habe, so habe die Praktikantin angeben, die Seniorin unterhakt zu haben. Insoweit sei eine rechtsfehlerhafte Feststellung des Landgerichts nicht ersichtlich.

Die Klägerin könne sich zudem nicht auf die Beweiserleichterung des § 630 h Abs. 1 BGB berufen. Dieser findet, auch im Bereich der Pflege Anwendung, wenn sich bei einer Behandlung ein allgemeines und für den Behandelnden voll beherrschbares Behandlungsrisiko verwirklicht hat. Dann wird ein Fehler der behandelnden Person vermutet. Das begleitete Spazierengehen stelle jedoch schon kein „voll beherrschbares Behandlungsrisiko“ im Sinne der Norm dar. Eine pflegerische Maßnahme im eigentlichen Sinne läge hier gar nicht vor. Voll beherrschbare Risiken kennzeichneten sich dadurch, dass sie durch den Klinik- oder Praxisbetrieb gesetzt würden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen. Abzugrenzen davon seien solche Risiken, die in die Sphäre des Patienten fielen, etwa durch die Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus. Ein begleiteter Spaziergang trage nicht die spezifischen Risiken des Pflegebetriebs in sich. Die Sturzgefahr könne durch eine Begleitperson zwar minimiert werden, jedoch nie gänzlich ausgeschlossen. Auch ein begleiteter Spaziergang setze ein eigenständiges Laufen der betroffenen Person voraus. Schon dadurch spielten die Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus in dieser Situation mit rein.

Soweit die Klägerin behauptete, die Praktikantin sie nicht qualifiziert genug gewesen, um einen begleiteten Spaziergang durchzuführen, sei nicht ersichtlich, weshalb dies kausal für den Sturz gewesen sei. Auch hier greife keine Beweiserleichterung. Unabhängig von der Frage, ob der § 630 h Abs. 4 BGB überhaupt für den nichtärztlichen Bereich anwendbar sei, unterfielen der Beweiserleichterung nur Handlungen, die einer besonderen Ausbildung bedürften. Einen begleiteten Spaziergang könne jedoch grundsätzlich jede gesunde, erwachsene Person, mit einem durchschnittlichen Verantwortungsgefühl, vornehmen. Immerhin sei die Klägerin selbst regelmäßig mit ihrer Mutter spazieren gegangen.

Was ergibt sich daraus für die Praxis?

Im vorliegenden Hinweisbeschluss hat sich das Gericht mit den Möglichkeiten der Beweiserleichterung im medizinischen Bereich nach § 630 h BGB befasst. Es hat deutlich herausgearbeitet, dass diese Beweiserleichterungen nur im Falle von Schäden anzuwenden seien, die durch den gängigen Praxis- oder Klinikbetrieb entstanden sind und bei ordnungsgemäßer Gestaltung dieses Betriebs hätten ausgeschlossen werden. Sobald in einem Fall die mit einer ärztlichen Behandlung verbundenen, unabwägbaren Reaktionen des menschlichen Organismus mit reinspielen, scheidet eine Beweiserleichterung nach dieser Norm aus. Diese strenge Auslegung ergibt auch Sinn. Fehler, insbesondere Fahrlässigkeit, im Praxis- oder Klinikbetrieb sind in der Regel für Patienten und ihre Angehörigen nur schwer nachzuweisen. Deshalb sind Regelungen zur Beweiserleichterung notwendig. Jedoch gibt es Fälle, in denen es trotz ordnungsgemäßem, gar lehrbuchhaftem, Ablauf einer Heilbehandlung nicht zum gewünschten Erfolg kommt, weil der menschliche Körper unvorhergesehener Weise nicht so reagiert wie zu erwarten war. Um medizinisches Personal dann nicht rechtlich zu benachteiligen oder die Haftung ins Uferlose auslaufen zu lassen ist die vom OLG Bamberg aufgeführte Auslegung des § 630 h BGB zu befürworten.


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